Steckt die digitale Medizin in der Sackgasse?
Die DiGA ist tot – lang lebe die DiGA. So oder so ähnlich lässt sich die Situation rund um die Regulation digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) aktuell zusammenfassen. Anstelle von Meldungen über Neuaufnahmen in das DiGA-Verzeichnis erreichen uns stetig mehr Meldungen über Streichungen von DiGA. In einem Fall geht die Streichung aus dem Verzeichnis sogar mit einer Rückzahlung von Versicherungsgeldern im höheren sechsstelligen Bereich einher. Wir erklären woran es liegt, dass es plötzlich immer weniger Anwendungen in das Verzeichnis schaffen und was Hersteller tun können, um sich frühzeitig abzusichern.
Eine kurze Analyse
Schauen wir doch zunächst einmal etwas näher auf die Zahlen. Derzeit (im November 2022) sind 33 Anwendungen im DiGA-Verzeichnis des BfArM gelistet. Dabei ist hervorzuheben, dass hiervon lediglich 14 Anwendungen dauerhaft in das Verzeichnis aufgenommen worden sind. Die übrigen 19 Anwendungen durchlaufen den nach § 139e Abs.4 SGB V vorgesehenen Erprobungszeitraum (auch als Fast-Track-Verfahren bekannt). Jedoch sind mittlerweile auch 5 Anwendungen über den Verlauf dieses Jahres wieder aus dem Verzeichnis gestrichen worden. Der Grund für die Streichung ist dabei praktisch immer derselbe; Ein Nachweis positiver Versorgungseffekte i.S.v. § 8 DiGAV ist nicht oder nicht abschließend gelungen. Diesbezüglich ist ergänzend anzumerken, dass einige Hersteller selbst die Streichung aus dem Register beantragt haben und dem BfArM somit zuvorgekommen sind. Ebenfalls interessant – nahezu alle gestrichenen Anwendungen haben oder hätten eine Verlängerung der eigentlich auf ein Jahr festgesetzten Erprobungszeitraums in Anspruch genommen bzw. in Anspruch nehmen müssen. Dies wirft eine entscheidende Frage auf. Ist der Erprobungszeitraum von nur einem Jahr von vornherein zu kurz? Um diese Frage zu beantworten, sollten wir uns zunächst den grundlegenden Lebenszyklus einer DiGA anschauen.
Lebenszyklus einer DiGA
Eine DiGA ist, wie in § 33a Abs.1 SGB V definiert, dem Grunde nach nichts anderes, als ein Medizinprodukt niedriger Risikoklasse. Als “niedrig” gelten hierbei gem. § 33a Abs.2 SGB V die Risikoklassen I und IIa nach Maßgabe der Klassifizierungsregeln aus Anhang VIII der Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte (MDR).
Als Hersteller einer DiGA ist man demnach zugleich immer auch Hersteller eines Medizinproduktes und muss entsprechend die nach Maßgabe der MDR vorgesehenen Herstellerpflichten vollumfänglich erfüllen. Dabei sind die Anforderungen, mit denen sich der Hersteller eines Medizinproduktes konfrontiert sieht, auch für ein Produkt der Klasse I, grundsätzlich als hoch zu bezeichnen. Gerade im Verhältnis zur “Vorgängerregulation”, die Richtlinie 93/42/EWG (MDD) im Verbund mit dem Medizinproduktegesetz (MPG), sind die Anforderungen deutlich gestiegen. Dieser Umstand führte dazu, dass vor dem “Wechsel” der Regulation im Mai 2021 von der MDD hin zur MDR ein Wettrennen der Hersteller beobachtet werden konnte. Man war bestrebt, so viele Produkte wie möglich unter den vermeintlich schützenden Mantel der Übergangsfrist nach Art. 120 Abs.3 MDR zu bringen. Diese Regelung ermöglichte es den Hersteller solche Produkte, die unter der MDR mit einer Höherklassifizierung (von Klasse I auf Klasse IIa oder höher) zu rechnen hatten, bis zu drei Jahre unter MDD-Konformität weiterhin am Markt zu betreiben. Was von vielen DiGA-Herstellern damals noch als Segen betrachtet wurde, rächt sich spätestens heute. Doch warum ist das so und in welchem Zusammenhang steht dies mit der Länge des Erprobungszeitraums? Die Lösung liegt im klinischen Nutzen der Applikation.
Stichwort – Klinischer Nutzen
Der klinische Nutzen kann vielfältig ausfallen und neben einem klar definierten medizinischem Nutzen (z.B. die Anwendung heilt/verbessert eine Indikation) auch das umfassen, was im DiGA-Kontext allgemein hin als patientenorientierte Struktur- und Verfahrensverbesserung (z.B. Steigerung der Adhärenz oder Gesundheitskompetenz) bezeichnet wird. Zusammenfassend kann man an dieser Stelle auch von positiven Versorgungseffekten sprechen.
Man könnte nun meinen, dass der Nachweis eines positiven Versorgungseffektes und damit auch eines klinischen Nutzens der Applikation erstmals im Rahmen des Erprobungszeitraums erfolgen muss. Diese Annahme ist jedoch falsch. Der Nachweis muss vielmehr bereits im Rahmen der klinischen Bewertung erbracht werden, welche der Hersteller des Produktes u.a. als Nachweis dafür erbringen muss, dass eine Konformität mit den Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen aus Anhang I der MDR sichergestellt ist.
Wird dies vom Hersteller von Beginn an beherzigt, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich später im Rahmen der Erprobungsphase eine “böse Überraschung” einstellt gering bis nicht existent. Wird jedoch bereits das Fundament falsch gesetzt, so kann der spätere Nachweis nur misslingen oder die Kosten für die Erbringung des Nachweises steigen in Höhen, die in einem ökonomischen Disaster für den Hersteller münden.
Was muss getan werden?
Das grundsätzliche Problem haben wir nun also erkannt. Nun gilt es Lösungen zu erarbeiten, welche dem “Supergau” in Form der Ablehnung des DiGA-Antrags aufgrund mangelnder Evidenz vorbeugen. Zielführend ist hier die Berücksichtigung der DiGA-Anforderungen bereits in der Planungsphase des Produktes. Um unsere Kunden zielführend bei Ihrem Vorhaben zu unterstützen, erstellen wir daher zunächst – gemeinsam mit dem Kunden – einen klinischen Versorgungsplan (kurz: KVP). Im Rahmen des KVP werden die (geplanten) Funktionen der Applikation dahingehend bewertet, auf welche positiven Versorgungseffekte diese später – im Rahmen des DiGA-Antragsverfahrens – einzahlen sollen. So ergibt sich frühzeitig ein Bild darüber, ob vom Hersteller gegebenenfalls zu viele Indikationsbereiche in den Fokus genommen werden. Auch bei der DiGA gilt der altbewehrte Satz: “Weniger ist mehr”. Am Ende des Tages kommt nicht die Applikation mit den meisten positiven Versorgungseffekten in das Verzeichnis, sondern eben die Applikation, für die ein positiver Versorgungseffekt stichhaltig nachgewiesen worden ist.
Im nächsten Schritt werden für die avisierten positiven Versorgungseffekte messbare Indikatoren und Kennzahlen ermittelt sowie – im Rahmen einer systematischen Literaturrecherche – mögliche Messinstrumente (z.B. validierte Fragebögen) ausfindig gemacht. Erst nach Abschluss dieser Analyse, sollte der Hersteller eine Entscheidung darüber treffen, in welche Richtung seine Applikation entwickelt werden soll.